Für den Vorsteuerabzug von gesetzlich geschuldeter Umsatzsteuer ist es nach deutschem Steuerrecht unabdingbare materielle Voraussetzung, dass der Unternehmer eine formell ordnungsgemäße Rechnung vorlegen kann, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 2 Umsatzsteuergesetz.
Das gleiche Erfordernis ergibt sich aus Art. 178 Buchst. a Mehrwertsteuersystemrichtlinie der Europäischen Union (2006/112/EG):
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) für den Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;“
Überraschend hat der EuGH am 21.11.2018 (Rs. C-664/16 – Lucretiu Hadrian Vadan) entschieden, dass es einem Unternehmer im Einzelfall auch ohne Vorlage einer Rechnung möglich sein kann, den Nachweis der Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug zu führen.
Im Streitfall begehrte ein rumänischer Unternehmer nach seiner rückwirkenden Registrierung als Steuerpflichtiger/Unternehmer aus der Errichtung einer Wohnanlage mit 90 Apartments im Zeitraum Juni 2006 bis September 2008 den Vorsteuerabzug. Da die vom Kläger getätigten Umsätze im Verlauf des Monats Juni 2006 die rumänische Kleinunternehmergrenze überstiegen, wurde er rückwirkend beginnend mit dem 01.01.2006 mehrwertsteuerpflichtig. Die rumänische Finanzbehörde setzte für den Zeitraum vom 01.08.2006 bis zum 31.12.2009 Mehrwertsteuer sowie Verspätungszinsen fest. Im Einspruchsverfahren beantragte der Kläger, ihm in dem Fall, dass er zum Unternehmer erklärt würde, das Vorsteuerabzugsrecht zuzuerkennen. Erbrachte aber gleichzeitig vor, dass er nicht mehr im Besitz der erforderlichen Originalrechnungen sei. Grundlage seines Begehrens war keine Rechnung, sondern eine bloße Schätzung in einem gerichtlichen Sachverständigengutachten.
Der EuGH verneinte zwar den Vorsteuerabzug allein auf Basis einer solchen Schätzung. Er macht jedoch in dem Urteil eine Aussage, die nahelegt, dass nach seiner Auffassung die Vorlage einer Rechnung nicht materiell-rechtliche Voraussetzung für den Vorsteuerabzug sei. Der amtliche Leitsatz der Entscheidung lautet:
„Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, insbesondere Art. 167, Art. 168, Art. 178 Buchst. a und Art. 179, sowie die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Steuerpflichtiger, der nicht in der Lage ist, durch Vorlage von Rechnungen oder anderen Unterlagen den Betrag der von ihm gezahlten Vorsteuer nachzuweisen, nicht allein auf der Grundlage einer Schätzung in einem vom nationalen Gericht angeordneten Sachverständigengutachten ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann“ (Hervorhebung durch den Verf.).
Die Formulierung „andere Unterlagen“ wäre überflüssig und unverständlich, wenn das Gericht nicht der Auffassung wäre, dass anstelle einer Rechnung auch andere objektive Nachweise im Einzelfall ausreichend sein können, um den Vorsteuerabzug zu ermöglichen. Dies würde allerdings bisherige Gewissheiten zum Vorsteuerabzug erschüttern. Solche anderen Unterlagen müssten eindeutig beweisen, dass dem rechnungslosen Leistungsempfänger tatsächlich Gegenstände geliefert worden sind und er dafür die Mehrwertsteuer tatsächlich entrichtet hatte. Daher dürften Lieferscheine nicht ausreichend sein, weil aus ihnen normalerweise nicht die tatsächliche Zahlung der Mehrwertsteuer hervorgeht. Da es auf den objektiven Nachweis ankommen dürfte, kann nicht ausschlaggebend sein, ob sich die schriftlichen Nachweise im Besitz des Leistungsempfängers oder des Leistungserbringers/Lieferanten befinden (EuGH, Urteil vom 21.11.2018 – Rs. C-664/16 (Lucretiu Hadrian Vadan, Rn. 45).
Die deutsche Finanzverwaltung sieht die Vorlage einer ordnungsgemäßen Rechnung gemäß § 14 Abs. 4 UStG weiterhin als materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG an.
Die Entscheidung „Vadan“ erinnert etwas an das im Nachhinein als bahnbrechend geltende Urteil des EuGH vom 27.09.2007, Rs. C-146/05 – Collée, als das Gericht erstmals entschieden hat, dass die Umsatzsteuerbefreiung einer nachweislich tatsächlich ausgeführten innergemeinschaftlichen Lieferung von der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats (im entschiedenen Fall das Finanzamt Limburg an der Lahn) nicht allein von der Einhaltung formeller Pflichten abhängig gemacht und auch nicht der Vorsteuerabzug mit der Begründung versagt werden darf, der Nachweis einer solchen Lieferung sei nicht rechtzeitig erbracht worden. Das Gericht ließ damals erstmals den Freibeweis, dass eine innergemeinschaftliche Lieferung gemäß § 6a UStG vorliegt, zu. In der Folge hat sich diese Rechtsprechung verfestigt und wurde später auch von der deutschen Finanzverwaltung respektiert.
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Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht Jens H. Adler, Wiesbaden
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